Verbindliche und zwingend umzusetzende Rechtsvorschriften sind allein die Harmonisierungsrechtsvorschriften der Europäischen Union bzw. die deutschen Produktsicherheitsvorschriften1. Welche Bedeutung haben der Blue Guide („Leitfaden für die Umsetzung der Produktvorschriften der EU 2016“) und die vielen speziellen Guidelines der Europäischen Kommission (etwa der „Leitfaden für die Anwendung der Maschinenrichtlinie 2006/42/EG“)?
Zu „Empfehlungen“ und „Stellungnahmen“ sagt Art. 288 Abs. 5 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV), sie „sind nicht verbindlich“. Sie „entfalten keine bindende Wirkung“ und „können folglich für die einzelnen keine vor den innerstaatlichen Gerichten durchsetzbaren Rechte begründen“2. Empfehlungen – so heißt es aber3 – „kommt im Einzelfall erhebliche Steuerungskraft für das Verhalten der Adressaten zu. Die Mitgliedstaaten orientieren sich oft an ihnen, entweder aus Praktikabilitätsgründen, aus Einsicht oder aus Opportunitätserwägungen, allerdings häufig unter Erwähnung der Freiwilligkeit, um einer Vorwegnahme der Haltung für künftige gleichgelagerte Fälle vorzubeugen. Keiner der Mitgliedstaaten wird bestrebt sein, sich ein integrationsfeindliches Verhalten vorwerfen zu lassen und sich daher bemühen, auch den unverbindlichen Rechtshandlungen Aufmerksamkeit zu schenken“. Ein Leitfaden ist noch nicht einmal eine solche „Empfehlung“, sondern ein im europäischen Primärrecht nicht geregelter Akt. Jedenfalls gilt es auch für den Blue Guide, wenn es zu Art. 288 Abs. 5 AEUV heißt, aus „rechtlicher Unverbindlichkeit folgt nicht rechtliche Bedeutungslosigkeit“4. Konkret zum Blue Guide sagt das Verwaltungsgericht Bayreuth, „zwar statuiert der Leitfaden keine rechtlich-verbindlichen Vorgaben, gleichwohl kann er als Auslegungshilfe zum Zwecke einer unionsweit einheitlichen Anwendung der Anforderungen herangezogen werden“5. Der Leitfaden für die Anwendung der Maschinenrichtlinie 2006/42/EG wird bestätigend herangezogen einmal vom Europäischen Gericht6 und vom Europäischen Gerichtshof7.
Der EuGH hebt zu „inoffiziellen Auslegungen“ hervor, sie sind zwar keine „authentische Interpretation“, aber „zweifellos zweckmäßige Verlautbarungen“8. Sie binden „nicht rechtlich, aber unter Umständen faktisch“: solche Maßnahmen haben die „Funktion, eine einheitliche oder harmonisierte Verwaltungspraxis in den Mitgliedstaaten zu erzielen“9. „Guidelines wirken damit wenn nicht rechtlich, so doch faktisch harmonisierend“10. Empfehlungen sind – auch wenn das nicht wirklich mit dem völkerrechtlichen soft law vergleichbar ist11 – ein geeignetes Instrument, um „weiche“ Rechtsangleichung zu betreiben12:
Zwar „impliziert Berücksichtigungspflicht keine Befolgungspflicht“18, aber der EuGH fasst zusammen: „Wenn Empfehlungen auch keine Rechte für den einzelnen begründen können, auf die dieser sich vor den nationalen Gerichten berufen könnte, so sind die nationalen Gerichte dennoch verpflichtet, sie bei der Entscheidung der bei ihnen anhängigen Rechtsstreitigkeiten zu berücksichtigen“19. Art. 16 Abs. 3 der Verordnung (EU) Nr. 1095/2010 zur Errichtung einer Europäischen Wertpapier- und Marktaufsichtsbehörde regelt das so: „Die zuständigen Behörden und die Finanzmarktteilnehmer unternehmen alle erforderlichen Anstrengungen, um diesen Leitlinien und Empfehlungen nachzukommen“.
Die vier Rechtswirkungen von Leitfäden der Kommission
Vor diesem Hintergrund ist die Zurückhaltung des Blue Guide zu sehen und nicht ganz zu verstehen – er sagt von sich selbst23: „Bei dem vorliegenden Dokument handelt es sich lediglich um Leitlinien – Rechtskraft kommt ausschließlich den jeweiligen Harmonisierungsrechtsakten der Union zu. Die rechtsverbindliche Auslegung des Unionsrechts obliegt ausschließlich dem Gerichtshof der Europäischen Union“. Das ist alles zutreffend – aber die Kommission warnt sogar, dass sie sich im Ernstfall selbst nicht an den Guide halten könnte: „Die in diesem Leitfaden dargelegten Auffassungen sind nicht als Vorgriff auf Standpunkte zu verstehen, die die Kommission gegebenenfalls vor dem Gerichtshof vertritt“. Erstens wird man durch diese Worte die Wirkungen der Taten in Richtung Selbstbindung der Verwaltung (und die „Vorwegnahme der Haltung für künftige gleichgelagerte Fälle“24) nicht sicher verhindern können. Zweitens geht vor lauter Warnung einer der ersten Sätze unter: Der Blue Guide sagt, er „erläutert, wie die nach dem neuen Konzept verfassten Rechtsvorschriften umzusetzen sind“. Das Vorwort des Blue Guide von 2000 ist nicht ganz so zaghaft: er „vermittelt Orientierung“ und „die in ihm zu findenden Orientierungshilfen in Zukunft möglicherweise geändert werden – das „bedeutet natürlich noch nicht, dass dies zu irgendeinem Thema das letzte Wort sei. Es handelt sich jedoch zweifellos um eine authentische Stellungnahme zu den dargelegten Sachverhalten“25. Die Einleitung des Leifadens zur Maschinenrichtlinie mahnt einerseits zutreffend, „es ist zu beachten, dass ausschließlich die Maschinenrichtlinie und die Texte für die Umsetzung ihrer Bestimmungen in einzelstaatliches Recht rechtsverbindlich sind“, setzt dann aber hinzu: „Die Kommission übernimmt selbstverständlich die volle Verantwortung für den Inhalt dieses Leitfadens“. Nachdem die Bundesnetzagentur bei einer Entscheidung von „Leitlinien der Kommission zur Marktanalyse und Ermittlung beträchtlicher Marktmacht (Marktanalyse-Leitlinien)“ abgewichen ist, sprach ihnen das Bundesverwaltungsgericht26 eine „Vermutungswirkung“ zu, denn sie „sollen eine einheitliche Anwendung des Europäischen Rechtsrahmens gewährleisten und allen interessierten Kreisen Transparenz und Rechtssicherheit bieten“: „soweit die Vermutungswirkung reicht, obliegt der Bundesnetzagentur eine (nur) nachvollziehende Bewertung, die einerseits die von der Vermutung ausgehende Vorprägung, andererseits auch und insbesondere vom europäischen Standard abweichende nationale Besonderheiten angemessen berücksichtigt“.
Die Rechtswirkungen von Leitfäden werden überschätzt und unterschützt:
Hier finden Sie den Leitfaden für die Umsetzung von Produktvorschriften der EU 2022 (Blue Guide):Leitfaden für die Umsetzung der Produktvorschriften der EU 2022
Fußnoten:1 Zum deutschen ProdSG siehe Wilrich, Produktsicherheitsrecht und CE-Konformität (2021). 2EuGH, Urteil v. 13.12.1989 (Rs. C 322/88).3Nettesheim, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, 48. Lieferung August 2012, Art. 288 AEUV Rn. 208.4Lange, in: Leible / Terhechte, Europäisches Rechtsschutz- und Verfahrensrecht, 2014, § 31 Handlungsformen im europäischen Verwaltungsrecht, Rn. 26, S. 1175.5VG Bayreuth, Urteil v. 29.01.2015 (Az. B 2 K 14.365).6EuG, Urteil v. 15.07.2015 (T-337/13).7EuGH, Urteil vom 15.06.2017 (C-513/15).8EuGH, Urteil v 18.06.1970 (Rs. 74/69).9Rowe, Europäische Integration durch Verwaltung und Verwaltungsrecht, Beichelt / Chołuj / Rowe / Wagener, Europa-Studien – Eine Einführung, 2. Aufl. 2013, S. 263, 273.10Fleischfresser, in: Fuhrmann / Klein / Fleischfresser, Arzneimittelrecht, 3. Aufl. 2020, § 3 Europäisierung des Arzneimittelrechts, Rn. 26 – für Guidelines der EMA.11So W. Schroeder, in: Streinz, EUV / AEUV, 3. Aufl. 2018, Art. 288 AEUV Rn. 128.12Nettesheim, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, 48. Lieferung August 2012, Art. 288 AEUV Rn. 201; W. Schroeder, in: Streinz, EUV / AEUV, 3. Aufl. 2018, Art. 288 AEUV Rn. 130.13Ausführlich Wilrich, Die rechtliche Bedeutung technischer Normen als Sicherheitsmaßstab – mit 33 Gerichtsurteilen zu anerkannten Regeln und Stand der Technik, Produktsicherheitsrecht und Verkehrssicherungspflichten (2017).14Siehe auch Wilrich, Praxisleitfaden BetrSichV, 2. Aufl. 2020.15Franz Reimer, Juristische Methodenlehre, 2016, Rn. 3; so sagt es auch BT-Drs. 12/6000 v. 05.11.1993, S. 23.16BR-Drs. 400/14, Beschluss v. 28.11.2014, S. 3 – zur Technischen Regeln für Betriebssicherheit (TRBS).17BR-Drs. 400/14 v. 28.08.2014, S. 84 – zu TRBS.18W. Schroeder, in: Streinz, EUV / AEUV, 3. Aufl. 2018, Art. 288 AEUV Rn. 131.19EuGH, Urteil v. 21.01.1993 (Rs. C-188/91) – Deutsche Shell AG gegen Hauptzollamt Hamburg-Harburg. Für Empfehlungen des „Gemischten Ausschusses“ gemäß Übereinkommen EWG / EFTA-Länder über ein gemeinsames Versandverfahren.20Thomas M.J. Möllers, Juristische Methodenlehre, 3. Aufl. 2020, § 3 Rn. 71 und 73.21Vgl. W. Schroeder, in: Streinz, EUV/AEUV, 3. Aufl. 2018, Art. 288 AEUV Rn. 128.22Vgl. Ruffert, in: Calliess / Ruffert, EUV / AEUV, 5. Aufl. 2016, Art. 288 Rn. 95; W. Schroeder, in: Streinz, EUV / AEUV, 3. Aufl. 2018, Art. 288 AEUV Rn. 128 – allgemein zu Empfehlungen.23Kommission, Blue Guide, Wichtiger Hinweis, S. 5.24Nettesheim (siehe schon Fußnote 3).25„Wichtiger Hinweis“ und Vorwort von Magnus Lemmel, Generaldirektor der Generaldirektion Unternehmen ab 1. Januar 2000.26BVerwG, Urteil v. 01.09.2010 (Az. 6 C 13/09) – Rn. 17 und 19.
Verfasst am: 03.06.2021
Prof. Dr. Thomas Wilrich Tätig rund um die Themen Produktsicherheit, Produkthaftung, Arbeitsschutz und Warenvertrieb einschließlich der entsprechenden Betriebsorganisation, Vertragsgestaltung, Schadensersatz- und Führungskräftehaftung, Versicherungsfragen und Strafverteidigung. Er ist an der Fakultät Wirtschaftsingenieurwesen der Hochschule München zuständig für Wirtschafts-, Arbeits-, Technik- und Unternehmensorganisationsrecht sowie „Recht für Ingenieure“.
E-Mail: info@rechtsanwalt-wilrich.de | www.rechtsanwalt-wilrich.de
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