Stoffe als solche und Gemische sind nach der Verordnung (EG) Nr. 1272/2008 (CLP) einzustufen, soweit sie entsprechende Gefahreneigenschaften aufweisen. Die Einstufung ist dabei wesentliche Grundlage für die Bestimmung erforderlicher Kennzeichnungen, Gefahren- und Risikohinweise und damit auch der Kommunikation in der Lieferkette nach der Verordnung (EG) Nr. 1907/2006 (REACH). Diese Lieferkettenkommunikation ist dabei auch wesentliches Element der „Material Compliance“ in nachgelagerten Industriezweigen. Im Rahmen des 6. REACH-EN-FORCE Projektes (REF-6) lag ein wesentlicher Schwerpunkt zuletzt auf der Überprüfung gerade dieser Einstufungen und Kennzeichnungen. Dabei wurden erhebliche Defizite identifiziert, die Unternehmen auf allen Stufen der Lieferkette Anlass sein sollten, die Prozesse zur Überprüfung von Materialkonformitäten nochmals kritisch zu hinterfragen.
Im Rahmen von REF-6 haben nach Angaben der Europäischen Chemikalien-Agentur (ECHA) insgesamt 1.620 Inspektoren in 29 Ländern 3.391 Gemische und 1.620 Unternehmen überprüft. Die ECHA hat unter dem 17.12.2019 die wesentlichen Ergebnisse des Projektes wie folgt zusammengefasst:
Die Ergebnisse belegen, dass die entlang der Lieferkette zur Verfügung gestellten Informationen kritisch zu hinterfragen sind, bevor auf dieser Grundlage von nachgeschalteten Anwender Entscheidungen über Materialkonformitäten getroffen werden. Damit wird die Notwendigkeit unterstrichen, dass Unternehmen einen entsprechenden Bewertungsprozess implementieren, um (Haftungs-)Risiken zu vermeiden.
Ein zentraler Aspekt einer funktionierenden Compliance-Struktur zur Gewährleistung der Einhaltung stoffrechtlicher Vorgaben ist die regelmäßige Überprüfung von Lieferanten, den von dort zur Verfügung gestellten Informationen und der jeweiligen Vertrauenswürdigkeit.
Nachgeschaltete Anwender, d.h. Unternehmen, die Stoffe als solche oder Gemische verwenden (vgl. Artikel 2 Nr. 19 CLP bzw. Artikel 3 Nr. 13 REACH) können zwar grundsätzlich auf diejenigen Einstufungen zurückgreifen, die ihnen von ihren Lieferanten mitgeteilt werden, sofern die Zusammensetzung nicht geändert wird (vgl. Artikel 4(6) CLP). Dies entbindet allerdings nicht von der Verpflichtung, die zur Verfügung gestellten Informationen kritisch zu überprüfen. Dies gilt in besonderer Weise, soweit den nachgeschalteten Anwender eigenständige regulatorische Verpflichtungen treffen. In diesem Fall erfordert bereits die Vermeidung eines schuldhaften, d.h. vorsätzlichen oder fahrlässigen Fehlverhaltens, dass die gebotenen Maßnahmen ergriffen werden, um den potentiellen Rechtsverstoß zu vermeiden.
Unabhängig von den durchaus vielfältigen Pflichten nachgeschalteter Akteure in der Lieferkette nach Titel V der REACH-Verordnung, fehlt es auf europäischer Ebene wie auch in Deutschland bislang an einer klarstellenden Festlegung der konkreten unternehmerischen Sorgfaltspflichten im Zusammenhang mit der Einhaltung stoffrechtlicher Anforderungen. Weder hat der Gesetzgeber die insofern maßgeblichen Anforderungen definiert, noch wurden Konkretisierungen im Rahmen der Spruchpraxis zuständiger Gerichte entwickelt. Für betroffene Unternehmen ist dies v.a. deshalb misslich, da Verstöße gegen stoffrechtliche Vorgaben zu erheblichen Haftungsrisiken führen können. Während gesetzlich angeordnete Verkehrsverbote noch eine vergleichsweise vorhersehbare Folge sind, darf auch das Risiko ergänzender bußgeld- und strafrechtlicher Risiken, etwa nach der Chemikalienverbotsverordnung (ChemVerbotsV) nicht unterschätzt werden. Darüber hinaus können zuständige Behörden ergänzende Anordnungen erlassen und drohen letztlich auch Haftungsrisiken entlang der Lieferkette.
Punktuell bestehen bereits Orientierungshilfen, aus denen die anzuwendenden Sorgfaltspflichten abgeleitet werden können. So sieht etwa die ECHA Leitlinie zu den Anforderungen für Stoffe in Erzeugnissen (Version 4.0, Juni 2017) unter Ziffer 5.1.4 ausdrücklich eine Bewertung der Informationen vor, die ein vorgeschalteter Akteur in der Lieferkette mit Blick auf besonders besorgniserregende Stoffe in Erzeugnissen nach Artikel 33 REACH zur Verfügung stellt. Dort ist etwa vorgesehen, dass u.a. vom Empfänger der Information zu hinterfragen ist, welche konkrete Erklärung abgegeben wird, diese eindeutig auf die gelieferten Erzeugnisse bezogen ist oder Gründe dafür bestehen, dass die Gültigkeit der Erklärung anzuzweifeln ist.
Für den Umgang mit Sicherheitsdatenblättern fehlt es an vergleichbaren Orientierungspunkten in den von der ECHA zur Verfügung gestellten Leitlinien. Man wird aber ohne Weiteres annehmen können, dass die von der ECHA für Informationen zu Stoffen in Erzeugnissen aufgestellten Vorgaben erst recht für die – weit strengeren regulatorischen Vorgaben unterworfene – Kommunikation mittels Sicherheitsdatenblatt nach Artikel 31 REACH gelten müssen. Somit wird auch der Empfänger von Sicherheitsdatenblättern mindestes eine Plausibilitätskontrolle sicherstellen müssen. Im Rahmen einer solchen Kontrolle wird mindestens zu überprüfen sein, ob die formale Gestaltung des SDB den Vorgaben des Anhangs II zur REACH-Verordnung entspricht, das Sicherheitsdatenblatt hinreichend aktuell ist und keine offenkundigen inhaltlichen Unrichtigkeiten aufweist.
Angesichts dieser Anforderungen liegt es daher nahe, stoffrechtliche Anforderungen an einem Kontroll- und Bewertungssystem auszurichten, dass in anderem Zusammenhang längst etabliert ist. Im Anwendungsbereich der Richtlinie 2011/65/EU (RoHS) wurde mit der EN 50581 eine Vorgabe für die Erstellung einer technischen Dokumentation zur Beurteilung von Elektro- und Elektronikgeräten hinsichtlich der Beschränkung gefährlicher Stoffe geschaffen, die zwischenzeitlich in Gestalt der EN IEC 63000 zum internationalen Standard weiterentwickelt wurde.
Die Norm enthält bereits Vorgaben zur Identifizierung und Bewertung von stoff- bzw. materialbezogenen Informationen des Lieferanten, der Beurteilung des in Rede stehenden Materials und der gebotenen Folgewirkungen für die Informationsanforderungen wie auch die Einordnung der Zuverlässigkeit des Lieferanten selbst. Damit wird letztlich ein Prüfprogramm vorgegeben, das ohne Weiteres auch auf die Informationspflichten nach REACH und die sonstige Einhaltung stoffrechtlicher Anforderungen, wie z.B. die Beachtung stoffbezogener Verbote und Beschränkungen, übertragbar ist.
Auf der Grundlage der Ergebnisse von REF-6 zeigt sich allerdings, dass Unternehmen im Rahmen ihrer internen Kontroll- und Prüfungsmechanismen nicht umhinkommen, auch die inhaltliche Richtigkeit der Angaben von Lieferanten in den Blick zu nehmen. Es genügt gerade nicht, allein die kommunizierten Angaben zur Einstufung eines Stoffes oder Gemisches aus einem ansonsten formal durchaus stimmigen Sicherheitsdatenblatt unreflektiert zu übernehmen. Vielmehr bedarf es mindestens auch einer Plausibilitätskontrolle der mitgeteilten Einstufungen und Kennzeichnungen.
Dies gilt jedenfalls, soweit Einstufungen und Kennzeichnungen unmittelbaren Einfluss auf die Verkehrsfähigkeit der jeweils in Verkehr gebrachten Produkte haben. Überwiegend wird der Anwendungsbereich von gesetzlichen Verkehrsverboten wie auch vertragliche Anforderungen durch die konkrete Bezeichnung einzelner Stoffe bestimmt. Dies gilt etwa für den überwiegenden Teil der Beschränkungen nach Anhang XVII zu REACH, die Stoffverbote gem. RoHS Stoffe oder auch die Anforderungen nach Verordnung (EU) Nr. 2019/1021 (POP). In diesen Fällen wird vor allem die textliche und numerische Bezeichnung eines Stoffes mit seinem Namen und einer spezifischen EC- oder CAS-Nummer für die Beurteilung der Materialkonformität entscheidend sein. Der Abgleich der entsprechenden Angaben in einer Lieferanteninformation mit den maßgeblichen Anforderungen wird daher regelmäßig ausreichen, ohne dass es auf eine nähere Kontrolle der etwaig mitgeteilten Einstufung und Kennzeichnung des Stoffes ankommt.
Anders liegt der Fall jedoch, soweit der Empfänger von Informationen Aspekte der Materialkonformität unter Berücksichtigung der Einstufung verwendeter Stoffe und Gemische zu beurteilen hat. Dies gilt etwa für die Verkehrsfähigkeit von Spielzeug nach Anhang II, Ziffer III der Richtlinie 2009/48/EG oder nach Anhang I, Kapitel II, Ziffer 10.4.2 der Verordnung (EU) 2017/745 über Medizinprodukte. Auch generalklauselartige Vorgaben für die Beschaffenheit von Produkten, wie etwa § 30 LFGB, zielen auf die Beurteilung der stoffbezogenen Gefahreneigenschaften und damit verbundener Risiken ab.
Auch im Bereich der Maschinen- und Elektrogeräteindustrie bestehen derartige Anforderungen. So bestimmt etwa Anhang I, Ziffer 1.5.13 der Maschinenrichtlinie sehr grundsätzlich, dass eine Maschine so konstruiert sein muss, dass das Risiko des Einatmens, des Verschluckens, des Kontaktes mit Haut, Augen und Schleimhäuten sowie des Eindringens von gefährlichen Werkstoffen und von der Maschine erzeugten Substanzen durch die Haut vermieden werden kann. Auch dies erfordert eine Identifizierung gefährlicher Werkstoffe und damit eine hinreichend belastbare Berücksichtigung der Einstufung von zugelieferten Stoffen und Gemischen.
Ferner stellen auch vertragliche Anforderungen – etwa im Rahmen von Qualitätssicherungsvereinbarungen (QSV) oder Beschaffenheitsvorgaben anhand von sog. „restricted substances lists“ (RSL) – regelmäßig nicht allein auf spezifische Stoffe, sondern auch generell auf Stoffe bzw. Gemische mit bestimmten Gefahreneigenschaft (wie z.B. CMR-Stoffe) ab.
Und es darf auch nicht verkannt werden, dass unabhängig von jedweder spezifischen produktrechtlichen Vorgabe die Verwendung gefährlicher Stoffe mindestens auch zu Haftungsrisiken nach dem Produkthaftungsgesetz oder der allgemeinen deliktischen Produzentenhaftung nach § 823 BGB führen kann.
Abschließend soll nicht unerwähnt bleiben, dass unabhängig von den Auswirkungen auf die Verkehrs- und Verwendungsfähigkeit von Produkten unrichtige Einstufungen auch auf einer gänzlich anderen Ebene zu Risiken führen können: Die Gefahreneigenschaften von Stoffen und Gemischen sind auch im Rahmen der innerbetrieblichen Bestimmung von Schutzmaßnahmen nach der Gefahrstoffverordnung (GefStoffV) zu berücksichtigen und maßgebliche Grundlage für die nach § 6 GefStoffV gebotene Gefährdungsbeurteilung.
Nach all diesen Anforderungen kann daher eine von einem Lieferanten unrichtig mitgeteilte Einstufung zu einem unmittelbaren Haftungsrisiko für einen nachgeschalteten Anwender führen, dass es zu vermeiden gilt.
Soweit daher das REF-6 Projekt belegt, dass ein nicht unerheblicher Teil der im Markt weitergegeben Informationen zu Einstufungen und Kennzeichnungen von gefährlichen Stoffen und Gemischen unrichtig ist, sind alle Akteure im Markt gut beraten, die eigenen Kontroll- und Überprüfungsprozesse hinsichtlich der Materialanforderungen kritisch zu hinterfragen. Selbst soweit Compliance-Prozesse in Anlehnung an EN 50581 bzw. EN IEC 63000 etabliert sind, sollte die kontinuierliche, mindestens aber stichpunktartige Überprüfung der von Lieferanten mitgeteilten Einstufungen von gelieferten Stoffen und Gemischen zu einem festen Bestandteil werden. Insbesondere eine kritische Überprüfung anhand der auf der Website der ECHA veröffentlichten und leicht zugänglichen Informationen wird jedem Unternehmen auch ohne spezifische chemische oder toxikologische Expertise durchaus zumutbar sein.
Verfasst am: 03.03.2020
Martin Ahlhaus Rechtsanwalt und Dipl.-Verwaltungswirt (FH) Martin Ahlhaus ist Gründungspartner der Produktkanzlei und auf Fragen des Chemikalien- und Stoffrechts (u.a. REACH, CLP, BPR, POP) sowie des produktbezogenen Umweltrechts (u.a. WEEE, RoHS) spezialisiert. Er ist der einzige Rechtsberater in Deutschland, der von der Wirtschaftskammer Österreich als REACH-Multiplikator zertifiziert wurde und Mitglied verschiedener Expertenkreise zu REACH auf Ebene des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI e.V.).
E-Mail: ahlhaus@produktkanzlei.com | www.produktkanzlei.com
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