Der Begriff „Stand der Technik“ spielt in den europäischen Richtlinien und somit im Zusammenhang mit der CE-Kennzeichnung eine besonders wichtige Rolle.
Der Begriff "Stand der Technik" ist aber nicht in den einschlägigen EU-Richtlinien definiert:
Einige wichtige Auszüge der Maschinenrichtlinie, in denen der Begriff "Stand der Technik" verwendet wurde:
Erwägungspunkt Nr. 14: „Es sollte den grundlegenden Sicherheits- und Gesundheitsschutzanforderungen genügt werden, damit gewährleistet ist, dass die Maschinen sicher sind; es sollte jedoch eine differenzierte Anwendung dieser Anforderungen erfolgen, um dem Stand der Technik zum Zeitpunkt der Konstruktion sowie technischen und wirtschaftlichen Erfordernissen Rechnung zu tragen."Anhang I, Allgemeine Grundsätze, Punkt 3: „Die in diesem Anhang aufgeführten grundlegenden Sicherheits- und Gesundheitsschutzanforderungen sind bindend. Es kann jedoch sein, dass die damit gesetzten Ziele aufgrund des Stands der Technik nicht erreicht werden können. In diesem Fall muss die Maschine so weit wie möglich auf diese Ziele hin konstruiert und gebaut werden."Anhang IX (EG-Baumuster-prüfung), Punkt 9.2: „Den Hersteller der betreffenden Maschine trifft die laufende Verpflichtung sicherzustellen, dass die Maschine dem jeweiligen Stand der Technik entspricht."Punkt 9.3: „… Stellt die benannte Stelle fest, dass die Bescheinigung unter Berücksichtigung des Standes der Technik gültig bleibt, erneuert sie die Bescheinigung für weitere fünf Jahre. …"
Rechtsanwalt Prof. Dr. Wilrich informiert in diesem Beitrag über die juristische Herangehensweise bei der Interpretation des Begriffs „Stand der Technik“ nach deutschem Recht. Darüber hinaus werden auch die Begriffe „Stand von Wissenschaft und Technik“ sowie „Anerkannte Regeln der Technik“ beleuchtet.
Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) unterscheidet in dem zum Atomrecht ergangenen Kalkar-Beschluss v. 8.8.19781 drei technische Standards
Der Gesetzgeber entscheidet, welches Sicherheitsniveau gelten soll. Die alten Vorgänger-Vorschriften2 zum heutigen Geräte- und Produktsicherheitsgesetz forderten (nur) die Beachtung der allgemein anerkannten Regeln der Technik. Heute wird im Produktsicherheitsrecht häufig der anspruchsvollere Stand der (Sicherheits-)Technik gefordert3. Der Stand der Technik ist auch zentraler Sicherheitsstandard im Arbeitsschutzrecht, verbindlich gemäß § 4 Abs. 2 und § 12 Abs. 1 BetrSichV, und gemäß § 4 Nr. 3 ArbSchG ist er zu „berücksichtigen", was bedeutet, dass er in die Überlegungen einfließen, aber nicht zwingend eingehalten werden muss. Wenn der Gesetzgeber die zwingende Einhaltung einer Vorgabe will, verwendet er das Wort „beachten".
Der Stand von Wissenschaft und Technik als höchstes Anforderungsniveau spielt eine Rolle im Atom- und Gentechnikrecht4.
Gemäß § 3 Produkthaftungsgesetz (ProdHaftG) bestimmt sich die Fehlerhaftigkeit eines Produkts nach den berechtigten Erwartungen des Nutzers – und zwar unter „Berücksichtigung aller Umstände". Zu berücksichtigen – also nicht zwingend zu beachten – ist dabei auch der Stand der Technik und sogar der Stand von Wissenschaft und Technik. Nach § 1 Abs. 2 Nr. 5 ProdHaftG ist aber die Haftung des Herstellers ausgeschlossen, wenn der Fehler nach dem Stand von Wissenschaft und Technik zum Zeitpunkt des Inverkehrbringens nicht erkannt werden konnte (sog. Entwicklungsrisiken).
Eine allgemein anerkannte Regel der Technik ist als unterstes Sicherheitsniveau die „herrschende Auffassung unter den technischen Praktikern", weshalb dieser Maßstab – so das BVerfG im Kalkar-Beschluss – „stets hinter einer weiterstrebenden technischen Entwicklung hinterherhinkt": „Bei dieser Art der Verknüpfung von Recht und Technik können die Behörden und Gerichte sich darauf beschränken, die herrschende Auffassung unter den technischen Praktikern zu ermitteln, um festzustellen, ob das jeweilige technische Arbeitsmittel in den Verkehr gebracht werden darf oder nicht". Anerkannte Regeln der Technik sind – so das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) in einem Beschluss vom Juni 1996 – Prinzipien und Lösungen, „die in der Praxis erprobt und bewährt sind und sich bei der Mehrheit der Praktiker durchgesetzt haben": Sie können (etwa in technischen Regelwerken), müssen aber nicht schriftlich fixiert sein: „Technische Regelwerke kommen hierfür als geeignete Quellen in Betracht. Sie haben aber nicht schon kraft ihrer Existenz die Qualität von anerkannten Regeln der Technik und begründen auch keinen Ausschließlichkeitsanspruch".
Bei sicherheitstechnischen Festlegungen in technischen Regelwerken besteht eine tatsächliche Vermutung dafür, dass sie anerkannte Regeln der Technik sind (so das OLG Celle im Urteil vom Mai 2003). Technische Regelwerke „begründen eine tatsächliche Vermutung dafür, dass sie als Regeln, die unter Beachtung bestimmter verfahrensrechtlicher Vorkehrungen zustande gekommen sind, sicherheitstechnische Festlegungen enthalten, die einer objektiven Kontrolle standhalten, sie schließen den Rückgriff auf weitere Erkenntnismittel aber keineswegs aus" (so das BVerwG im Beschluss vom Juni 1996).
Auch der Bundesgerichtshof (BGH) betont die „hohe Bedeutung der Normung" etwa „in Bezug auf Rationalisierung, Qualitätssicherung, Verständigung der am Wirtschaftsleben beteiligten Kreise, aber auch für die Sicherheit der Produkte der industriellen Massenfabrikation" 5. Technische Regelwerke „spiegeln den Stand der für die betreffenden Kreise geltenden anerkannten Regeln wider und sind somit zur Bestimmung des nach der Verkehrsauffassung zur Sicherheit Gebotenen in besonderer Weise geeignet“ 6. Anerkannt ist aber, dass sie „im Allgemeinen keine abschließenden Verhaltensanforderungen gegenüber den Schutzgütern enthalten" 7. Technische Regelwerke „können die anerkannten Regeln der Technik wiedergeben oder hinter ihnen zurückbleiben" 8. Der BGH warnt, es handele sich bei technischen Regelwerken „nicht um mit Drittwirkung versehene Normen im Sinne hoheitlicher Rechtssetzung, sondern um auf freiwillige Anwendung ausgerichtete Empfehlungen“, die „regelmäßig keine abschließenden Verhaltensanforderungen gegenüber Schutzgütern Dritter aufstellen. Welche Maßnahmen zur Wahrung der Verkehrssicherungspflicht erforderlich sind, hängt vielmehr stets von den tatsächlichen Umständen des Einzelfalls ab" 9.
BHG, Urteil vom 27.09.1994 AZ. VI ZR 150/93:Es genügt etwa nicht, technische Regelwerke zu erfüllen, „wenn die technische Entwicklung darüber hinausgegangen ist" oder „wenn sich bei der Benutzung eines technischen Geräts Gefahren zeigen", die „noch nicht berücksichtigt sind".
Auf der zweiten Stufe gibt es den Stand der Technik als – so das BVerfG im Kalkar-Beschluss – „höheres Sicherheitsniveau". Dieses Anforderungsniveau wird etwa in § 3 Abs. 10 GefStoffV definiert:
„Der ‚Stand der Technik’ ist der Entwicklungsstand fortschrittlicher Verfahren, Einrichtungen oder Betriebsweisen, der die praktische Eignung einer Maßnahme zum Schutz der Gesundheit und zur Sicherheit der Beschäftigten gesichert erscheinen lässt. Bei der Bestimmung des Standes der Technik sind insbesondere vergleichbare Verfahren, Einrichtungen oder Betriebsweisen heranzuziehen, die mit Erfolg in der Praxis erprobt worden sind".
Ähnlich definieren dies auch § 2 Nr. 5 StörfallV (12. BImSchV), § 3 Abs. 6 Bundesimmissionsschutzgesetz (BimSchG) und § 3 Abs. 12 Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetz (KrW-/AbfG). Diese Definitionen werden auch in anderen Rechtsbereichen – etwa dem Produktsicherheitsrecht – herangezogen.
Mit dem Stand der Technik wird – so das BVerfG Kalkar-Beschluss – der rechtliche Maßstab für das Erlaubte oder Gebotene „an die Front der technischen Entwicklung verlagert“, da die allgemeine Anerkennung und die praktische Bewährung allein nicht ausschlaggebend sind – man muss „in die Meinungsstreitigkeiten der Techniker eintreten, um zu ermitteln, was technisch notwendig, geeignet, angemessen und vermeidbar ist“. Es geht um das „entwickelte Stadium der technischen Möglichkeiten zu einem bestimmten Zeitpunkt“, aber basierend auf „gesicherten Erkenntnissen von Wissenschaft, Technik und Erfahrung“. Zu einer anerkannten Regel der Technik wird die technische Festlegung (erst) dann, wenn sie „von einer Mehrheit repräsentativer Fachleute als Wiedergabe des Standes der Technik angesehen wird“ (vgl. Nr. 1.4 und 1.5 der EN 45020:1998 „Normung und damit zusammenhängende Tätigkeiten – Allgemeine Begriffe“).
Verbindlich ist im Produktsicherheitsrecht allein der Stand der Technik. Normen sind daher (nur) verbindlich, wenn sie den Stand der Technik kodifizieren. „Anders als allgemein angenommen, ist dieser Fall sehr selten. Nicht die Norm ist zwingend, sondern der Stand der Technik. Eine Norm kann nicht für sich in Anspruch nehmen, den Stand der Technik systematisch und von vornherein widerzuspiegeln, sondern sie muss unumstrittener Ausdruck einer weit verbreiteten fachlichen Realität im betreffenden Berufsstand sein“ ( so die EG-Kommission in ihren Erläuterungen zur alten Maschinenrichtlinie 98/37/EG, Rn. 167, S. 47, was aber auch heute noch gilt). Bei europäisch harmonisierten Normen oder einer vom Ausschuss für technische Arbeitsmittel und Verbraucherprodukte ermittelten und bekannt gemachten technischen Spezifikation besteht indes eine Vermutung, dass bei ihrer Einhaltung die Sicherheitsziele eingehalten sind (§ 4 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2 Satz 3 GPSG). Harmonisierte Normen bieten einen „guten Anhaltspunkt“ für den Stand der Technik zum Zeitpunkt der Bekanntmachung (EC-Commission, Guide to the application of the Machinery Directive 2006/42/EC, 2017, § 162, Seite 155: „good indication“) 10.
Die Maschinenrichtlinie fordert die Einhaltung des Standes der Technik, benennt aber auch (wirtschaftliche) Grenzen. In Anhang I „Allgemeine Grundsätze“ Nr. 3 heißt es: „Die in diesem Anhang aufgeführten grundlegenden Sicherheits- und Gesundheitsschutzanforderungen sind bindend. Es kann jedoch sein, dass die damit gesetzten Ziele aufgrund des Stands der Technik nicht erreicht werden können. In diesem Fall muss die Maschine so weit wie möglich auf diese Ziele hin konstruiert und gebaut werden“. Und Erwägungsgrund 14 der Maschinenrichtlinie ergänzt, es sollte „eine differenzierte Anwendung dieser Anforderungen erfolgen, um dem Stand der Technik zum Zeitpunkt der Konstruktion sowie technischen und wirtschaftlichen Erfordernissen Rechnung zu tragen“.
Die EG-Kommission betont in ihrem Leitfaden zur neuen Maschinenrichtlinie, dass der Stand der Technik (state of the art) “includes both a technical and an economic aspect. In order to correspond to the state of the art, the technical solutions adopted to fulfil the essential health and safety requirements must employ the most effective technical means that are available at the time for a cost which is reasonable taking account of the total cost of the category of machinery concerned and the risk reduction required. Manufacturers of machinery cannot be expected to use solutions that are still at the research stage or technical means that are not generally available on the market. On the other hand, they must take account of technical progress and adopt the most effective technical solutions that are appropriate to the machinery concerned when they become available for a reasonable cost. ‘The state of the art’ is thus a dynamic concept: the state of the art evolves when more effective technical means become available or when their relative cost diminishes” 11. Die wirtschaftlichen Gesichtspunkte betont der BGH im Urteil vom 16. Juni 2009 (Az. VI ZR 107/08) zu einem Unfall nach einer Fehlauslösung eines Airbags und verweist dabei ausdrücklich auch auf den risk-utility-Test im US-amerikanischen Recht.
Der Nachweis der Einhaltung der in der Maschinenrichtlinie geforderten Integration der Sicherheit in die Konstruktionsprozesse und der Nachweis der Durchführung der Risikobeurteilung wird im Schadensfall von besonderer Bedeutung sein, um darlegen zu können, warum zum Zeitpunkt der Konstruktion die gewählte sicherheitstechnische Lösung aus der Sicht des Konstrukteurs geeignet erschien, tatsächlich auch dem geforderten Sicherheitsmaßstab zu genügen. Dies ist auch bei der Anwendung von Normen zu berücksichtigen, die nicht Konformitätsvermutung besitzen.
Die dritte Stufe bildet den Stand der Wissenschaft und Technik als höchstes Sicherheitsniveau. Es kommt auf die „derzeitigen menschlichen Erkenntnisse“ an. Das BVerfG fasst im Kalkar-Beschluss zusammen: Der Maßstab des Standes der Wissenschaft und Technik „übt einen noch stärkeren Zwang dahin aus, dass die rechtliche Regelung mit der wissenschaftlichen und technischen Entwicklung Schritt hält. Es muss diejenige Vorsorge gegen Schäden getroffen werden, die nach den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen für erforderlich gehalten wird. Lässt sie sich technisch noch nicht verwirklichen, darf die Genehmigung nicht erteilt werden; die erforderliche Vorsorge wird mithin durch das technisch gegenwärtig Machbare begrenzt“. Auch hier werden indes Restrisiken hingenommen. Es gilt zwar der „Grundsatz der bestmöglichen Gefahrenabwehr und Risikovorsorge“, aber es muss nicht mit absoluter Sicherheit ausgeschlossen sein, dass Schadensereignisse eintreten, sondern es reicht, wenn dies „praktisch ausgeschlossen erscheint“. Denn – so das BVferG – technisches Risiko ist „unentrinnbar und insofern als sozialadäquate Last von allen Bürgern zu tragen“.
1 Az. 2 BvL 8/772 § 3 Abs. 1 Satz 3 Gerätesicherheitsgesetz (GSG) und § 6 Abs. 1 Produktsicherheitsgesetz (ProdSG)3 etwa gemäß § 14 Abs. 1 Nr. 3 und Abs. 2 Satz 3 GPSG, Art. 3 Abs. 3 e der Produktsicherheitsrichtlinie, Art. 2 der Niederspannungsrichtlinie und Anhang I Allgemeine Grundsätze Nr. 3, Anhang IX Nr. 9.2 sowie Erwägungsgrund 14 der Maschinenrichtlinie4 gemäß § 6 Abs. 2 GenTG und § 7 Abs. 2 Nr. 3 AtomG5BGH, Urteil v. 10.3.1987 – VI ZR 144/866BGH, Urteil v. 1.3.1988 – VI ZR 190/877Ständige Rechtsprechung des BGH, etwa in den Urteilen aus März 2001 und Februar 2004.8BGH, Urteil vom Mai 19989BGH, Urteil v. 3.6.2008 – VI ZR 223/0710 Kostenloser Download: Guide to the application of the Machinery Directive 2006/42/EC11EC-Commission, Guide to the application of the Machinery Directive 2006/42/EC, 2009, § 161, Seite 154
Verfasst am: 25.5.2010
Prof. Dr. Thomas Wilrich Tätig rund um die Themen Produktsicherheit, Produkthaftung, Arbeitsschutz und Warenvertrieb einschließlich der entsprechenden Betriebsorganisation, Vertragsgestaltung, Schadensersatz- und Führungskräftehaftung, Versicherungsfragen und Strafverteidigung. Er ist an der Fakultät Wirtschaftsingenieurwesen der Hochschule München zuständig für Wirtschafts-, Arbeits-, Technik- und Unternehmensorganisationsrecht sowie „Recht für Ingenieure“.
E-Mail: info@rechtsanwalt-wilrich.de | www.rechtsanwalt-wilrich.de
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