EU-Richtlinien wie z.B. die EG-Maschinenrichtlinie, die EU-Niederspannungsrichtlinie oder die EMV-Richtlinie sowie diese konkretisierende technische Normen definieren Anforderungen an Produkte, die in der Europäischen Union in Verkehr gebracht werden.
Doch was ist, wenn sich solche Richtlinien oder Normen ändern? Was ist maßgebend für die Frage, welche Richtlinie oder Norm im Fall ihrer Änderung (Vorgänger oder Nachfolger) zur Anwendung kommt? Die Antwort darauf schlummert hinter dem Begriff „Inverkehrbringen“.
Die Maschinenrichtlinie definiert den Rechtsbegriff wie folgt:
EG-Maschinenrichtlinie 2006/42/EG, Art. 2 S. 2 Buchtst. h) „‘Inverkehrbringen’ die entgeltliche oder unentgeltliche erstmalige Bereitstellung einer Maschine oder einer unvollständigen Maschine in der Gemeinschaft im Hinblick auf ihren Vertrieb oder ihre Benutzung“
Die Niederspannungsrichtlinie definiert – verteilt auf zwei Begriffsbestimmungen - analog:
EU-Niederspannungsrichtlinie 2014/35/EU, Art. 2 Nrn. 1, 2 „‘Bereitstellung auf dem Markt’: jede entgeltliche oder unentgeltliche Abgabe eines elektrischen Betriebsmittels zum Vertrieb, Verbrauch oder zur Verwendung auf dem Unionsmarkt im Rahmen einer Geschäftstätigkeit“ „‘Inverkehrbringen’: die erstmalige Bereitstellung eines elektrischen Betriebsmittels auf dem Unionsmarkt“
Der von der Europäischen Kommission herausgegebene Leitfaden für die Anwendung der Maschinenrichtlinie 2006/42/EG führt in § 74 dazu Folgendes aus:
„Die Bereitstellung einer Maschine bedeutet, dass die Maschine vom Hersteller einer anderen Person wie einem Händler oder Benutzer über-lassen wird bzw. auf diesen übergeht. (…) Häufig (aber nicht ausschließlich) geht mit dem Inverkehrbringen das Eigentum an der Maschine gegen Bezahlung (beispielsweise Verkauf oder Mietkauf) vom Hersteller auf den Händler oder Benutzer über.“
Alle denkbaren Varianten und Ausprägungen des Begriffs und der Rechtsfolgen von „Inverkehrbringen“ zu diskutieren, würde zwar den Umfang dieses Beitrages sprengen. Festgehalten werden kann aber, dass durch diesen rechtlich definierten Begriff genau jener Zeitpunkt definiert wird, der maßgebend für die Auswahl der anzuwendenden Regelwerke ist. Dies alles ist nicht neu. Was hat dies nun mit der neuen Marktüberwachungsverordnung (MÜ-VO) zu tun? Die neue Verordnung nimmt die Wirtschaftsakteure (insbesondere Hersteller, Bevollmächtigter, Einführer und Händler, nunmehr erweitert um den Fulfilment-Dienstleister) insbesondere unter Berücksichtigung des Online-Handels in die Pflicht und erlegt diesem bestimmte Pflichten auf, wie bereits im CE-InfoService berichtet. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass bezüglich des Fernabsatzes in Kapitel II, Art. 6 MÜ-VO, Folgendes vorgegeben wird:
„Wird ein Produkt online oder über eine andere Form des Fernabsatzes zum Verkauf angeboten, gilt das Produkt als auf dem Markt bereitgestellt, wenn sich das Angebot an Endnutzer in der Union richtet.“
Auf den ersten Blick bedeutet dies, dass das oben beschriebene und etablierte System des Zeitpunkts des Inverkehrbringens außer Kraft gesetzt werden soll. Mit anderen Worten: Stellt z.B. ein Hersteller fest, dass sich eine für ihn wichtige Anforderung (z.B. eine produktspezifische Norm oder einschlägige Richtlinie) ändert, müsste ja nur das Produkt auf der Homepage zum Verkauf angeboten werden, und der Hersteller hätte damit einen „Freifahrtsschein“, beliebig lang seine Produkte zu verkaufen, die nicht mehr den aktuellen Anforderungen entsprechen.
Dass dies nicht so gemeint sein kann und auch nicht so interpretiert werden kann, führt Rechtsanwalt Dr. Carsten Schucht wie folgt aus:
Bezüglich der Bereitstellungsfiktion (siehe unten zum juristischen Begriff der Fiktion) ist zu konstatieren, dass damit eine zeitliche Vorverlagerung des handlungsspezifischen Anwendungsbereichs der sektoralen Rechtsakte (z.B. EG-Maschinen- oder EU- Niederspannungsrichtlinie) einhergeht. Konkret werden die europäischen Marktüberwachungsbehörden mit den Mitteln des Marktüberwachungsrechts bereits auf solche Produkt-Angebote im Internet reagieren können, die naturgemäß im Vorfeld des späteren Versands bzw. der späteren Abgabe liegen; denn dieser frühe Zeitpunkt liegt nicht zuletzt vor dem betreffenden Kaufvorgang durch Angebot und Annahme im Sinne des §§ 145 ff. BGB, wobei beim elektronischen Rechtsverkehr in der Bewerbung von Waren im virtuellen Schaufenster grundsätzlich nur eine Aufforderung zur Abgabe eines Angebots zu sehen ist. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass sich die Bereitstellungsfiktion nicht widerspruchslos mit der Definition des Einführers in Art. 3 Nr. 9 MÜ-VO in Einklang bringen lässt: Erst der Einführer bringt per definitionem Produkte aus einem Drittstaat auf dem Unionsmarkt in Verkehr. Vor diesem Hintergrund kann es zukünftig dazu kommen, dass ein online angebotenes Produkt zunächst als auf dem Markt bereitgestellt gilt, bevor es dann tatsächlich von einem Einführer in Verkehr gebracht wird. Beim Hersteller besteht dieser Widerspruch nicht in gleicher Weise, weil er (weiterhin) Produkte vermarktet, Art. 3 Nr. 8 MÜ-VO.
Spannend ist die sich aufdrängende Rechtsfrage, ob die Bereitstellungfiktion so zu verstehen ist, dass die Wirtschaftsakteure damit ab dem 16.7.2021 ein wirksames Instrument erhalten, eine anwendungsbereichsbezogene Vorverlagerung des Produktsicherheitsrechts zu ihren Gunsten herbeizuführen. So könnte z.B. an den Hersteller hochwertiger Investitionsgüter (z.B. von Maschinen) gedacht werden, der eine Maschine noch vor dem Herstellungsprozess – mit klarer Stoßrichtung auf europäische Endnutzer – im Internet anbietet und erst im Falle des Kaufs mit ihrer – gegebenenfalls nicht kurzfristig zu bewerkstelligenden – Produktion beginnt. Mit anderen Worten ließe sich ein nicht unerheblicher Zeitraum (im Einzelfall sicher ohne Weiteres mehrere Monate) zwischen dem Online-Angebot und der mit einer faktischen Übergabe einhergehenden Auslieferung der Maschine an den Käufer bzw. Kunden konstruieren. Falls sich nun innerhalb dieses Herstellungszeitraums der Stand der Technik z.B. wegen einer modifizierten harmonisierten (technischen) Norm ändert oder eine sonstige Stichtagsregelung mit produktsicherheitsrechtlicher Relevanz zu beachten ist, könnte der betreffende Hersteller bzw. Online-Verkäufer, der diese Entwicklung beim Kaufgegenstand (noch) nicht nachvollzogen hat, argumentieren, dass der maßgebliche Zeitpunkt für die produktsicherheitsrechtliche Prüfung bzw. Einhaltung der formellen und materiellen Anforderungen z.B. aus der EG-Maschinenrichtlinie (Richtlinie 2006/42/EG) oder der EU-Niederspannungsrichtlinie (Richtlinie 2014/35/EU) aufgrund der gesetzlichen Fiktion bereits im früheren Online-Angebot liege. Die spätere Abgabe des im konstruktiven Design nunmehr veralteten Kaufgegenstands (Maschine, elektrisches Gerät) könnte daher produktsicherheitsrechtlich seitens der zuständigen Marktüberwachungsbehörde nicht mehr beanstandet werden. Dieselbe Argumentation käme in jenen – praktisch sicher wichtigeren – Fällen in Betracht, wo bereits absehbar veraltete Ware in der EU auf Halde liegt oder noch vor der Verschiffung außerhalb der EU gelagert wird. In der Tat kann das Postulat der „vorverlagerbaren“ produktsicherheitsrechtlichen Anforderungen durch die Generierung von Online-Angeboten aus Praktikerkreisen bereits vernommen werden. Auch wenn sich diese Sichtweise mit Blick auf den Wortlaut der Fiktion ohne Weiteres hören lässt, kann sie juristisch nicht überzeugen, und zwar bei Zugrundelegung teleologischer Auslegung (also die Auslegung von Gesetzen nach Sinn und Zweck), die auch und gerade im EU-Recht eine hervorgehobene Rolle spielt: Die Fiktion soll die europäischen Marktüberwachungsbehörden in die schon seit Längerem herbeigesehnte Lage versetzen, möglichst frühzeitig Zugriff auf die hinter den Online-Angeboten stehenden Wirtschaftsakteure und Produkte zu erhalten. Demgegenüber wird mit dieser neuen Regelung gewiss nicht bezweckt, den Wirtschaftsakteuren ein flexibles „Tool“ an die Hand zu geben, um bevorstehende Änderungen mit Auswirkungen auf die produktsicherheitsrechtliche Verkehrsfähigkeit durch das einfache Generieren von Online-Angeboten mit EU-Bezug für eine gegebenenfalls Vielzahl betroffener Produkte zu „neutralisieren“. Aus diesem Grund kann die im Raum stehende Rechtsfrage bei verständiger Würdigung nur so beantwortet werden, dass die tatsächliche (faktische) Bereitstellung eines europäisch-harmonisierten Produkts weiterhin jener Zeitpunkt bleibt, der für die Erfüllung der produktsicherheitsrechtlichen Anforderungen maßgeblich ist. Der frühere Zeitpunkt eines etwaigen Online-Angebots ist diesbezüglich damit unerheblich. Im Übrigen darf nicht übersehen werden, dass die Geltung des Produkthaftungsrechts naturgemäß unberührt bleibt, sodass jedenfalls zum Zwecke der Reduzierung bzw. Beseitigung von Risiken aus diesem ohnehin strengeren Regelungsregime ohnehin eine Orientierung am neuesten Stand der Wissenschaft und Technik just im Zeitpunkt des Inverkehrbringens angezeigt ist.
Die Systematik des Inverkehrbringens gemäß den aktuell geltenden Harmonisierungsrechtsakten der Union wie z.B. der EG-Maschinen- oder EU-Niederspannungsrichtlinie wird durch die neue MÜ-VO nicht beeinflusst. Maßgeblich für die Auswahl der anwendbaren Richtlinien und Normen ist nach wie vor der durch die genannten Richtlinien definierte Zeitpunkt des Inverkehrbringens. Es ist davon auszugehen, dass der Versuch, dies mit der Argumentation entsprechend Kapitel II, Art. 6 MÜ-VO, zu umgehen, bei einer Beanstandung durch Behörden oder in Haftungsfällen nicht zielführend wäre.
Zum Begriff der juristischen „Fiktion“:
Darunter verstehen Juristen eine gesetzliche Anordnung, die einen Tatbestand als gegeben ansieht, obwohl er tatsächlich gar nicht gegeben ist oder nicht gegeben sein muss. So wird bei der Bereitstellung auf dem Markt gesetzlich die Abgabe eines Produkts verlangt. Ein Online-Angebot ist jedoch eindeutig noch keine Abgabe. Wenn nun der Gesetzgeber möchte, dass für Online-Angebote gleichwohl schon das gesetzliche „Bereitstellungsrecht“ gelten soll, gibt es zwei Möglichkeiten: Erstens verändert der Gesetzgeber die Definition der Bereitstellung auf dem Markt dergestalt, dass sie keine Abgabe mehr erfordert. Zweitens fingiert er, dass Online-Angebote ebenso wie Abgaben zu behandeln sind (= Fiktion), obwohl dies gar nicht der Fall ist oder jedenfalls nicht der Fall sein muss.
Verfasst am: 30.07.2020
Johannes Windeler-Frick, MSc ETH Geschäftsführer der IBF Solutions. Fachreferent CE-Kennzeichnung und Safexpert. Vorträge, Podcasts und Publikationen zu unterschiedlichen CE-Themen, insbesondere CE-Organisation und effizientes CE-Management. Leitung der Weiterentwicklung des Softwaresystems Safexpert. Studium der Elektrotechnik an der ETH Zürich (MSc) im Schwerpunkt Energietechnik sowie Vertiefung im Bereich von Werkzeugmaschinen.
E-Mail: johannes.windeler-frick@ibf-solutions.com | www.ibf-solutions.com
Dr. Carsten Schucht Rechtsanwalt Dr. Carsten Schucht ist Partner der Produktkanzlei am Standort Berlin. Er ist spezialisiert auf die Beratung in den Bereichen des Produktsicherheits-, Produkthaftungs- und Arbeitsschutzrechts.
E-Mail: schucht@produktkanzlei.com | www.produktkanzlei.com
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