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EuGH-Urteil: harmonisierte Normen im EU-Amtsblatt - Causa "Malamud"

Sind harmonisierte Normen im EU-Amtsblatt bald kostenlos?


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Die sogenannte Causa "Malamud" ging in die dritte Runde! Die Forderung zweier Organisationen auf kostenlosen Zugang zu harmonisierten Normen wurde im Juli 2021 vor dem Europäischen Gericht (EuG) unter dem Aspekt des Schutzes geistigen Eigentums (Normen werden urheberrechtlich durch Normungsorganisationen erstellt) abgelehnt. Nach der Revision gegen das Urteil folgte im Juni 2023 die Empfehlung der EU-Generalanwältin Medina: harmonisierte Normen sind Teil des Unionsrechts, die Anwendung dieser Dokumente sei mit dem Befolgen verbindlicher Vorschriften gleichzusetzen. Dieses Urteil wurde am 5. März 2024 vom EuGH in einer offiziellen Mitteilung bestätigt. Als Reaktion darauf haben die nationalen Normungsorganisationen Lesbarkeitsplattformen eingerichtet, auf denen nur die nationalen Ausgaben der vier Normen, die Gegenstand des Verfahrens waren, kostenlos eingesehen werden können. 
 

Urteil des EuGH am 5. März 2024

Der Europäische Gerichtshof hat verkündet, dass der in der Causa diskutierte Zugang zu den 4 angeforderten harmonisierten Normen für die Klägerseite  (u.a. nach Spielzeugrichtlinie 2009/48/EG) gewährt werden muss. Die ursprüngliche Entscheidung der Kommission auf Verweigerung der Herausgabe der Dokumente wird für nichtig erklärt. Hier erinnert der Gerichtshof daran, dass jedem Bürger der EU sowie jeder natürlichen oder juristischen Person Zugang zu Dokumenten gewährt werden müssen, die sich im Besitz der EU-Kommission befinden. In der behandelten Causa stellen die angeforderten Dokumente Teil des EU-Recht dar, da die EU-Kommission diesen Normen durch die Veröffentlichung im EU-Amtsblatt Rechtswirkung verleiht. Unter dem Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit und des freien Zugangs zum Recht argumentiert der EuGH, dass sich Bürger mit den Inhalten der Normen vertraut machen sollten, damit überprüft werden kann ob ein Produkt den Anforderungen der zugrundeliegenden Rechtsvorschrift entspricht.

Diese durch die genannten Rechtsvorschriften verliehene Rechtswirkung ist eines der wesentlichen Merkmale dieser Normen und macht sie für die Wirtschaftsteilnehmer zu einem unerlässlichen Instrument für die Ausübung des Rechts auf freien Waren- und Dienstleistungsverkehr auf dem EU-Markt. Daraus erfolgt ein überwiegendes öffentliches Interesse an den harmonisierten Normen im Sinne von Art. 4 Abs. 2 letzter Satz der Verordnung Nr. 1049/2001, das die Offenlegung der beantragten harmonisierten Normen rechtfertigt.
 

Interpretationen des Urteils

Von Seiten der Normungsorganisationen wird das Urteil dahingehend interpretiert, dass im Urteil nicht in Frage gestellt wird, dass Harmonisierte Normen dem Urheberrechtsschutz unterliegen.1 Eines der Hauptargumente sowohl der Kläger als auch der Generalanwältin war die generelle Aufhebung dieses Schutzes und hätte den kostenlosen Zugang für sämtliche Dokument bedeutet. Weiterhin wird nicht in Frage gestellt, dass der Zugang zu Dokumenten im Rahmen der Verordnung 1049/2001 unbeschadet bestehender Urheberrechtsvorschriften erfolgt, die das Recht Dritter auf Vervielfältigung oder Nutzung freigegebener Dokumente einschränken können.

Die Anwälte der Kläger hingegen sehen im Urteil eine "vollständige Neuordnung des europäischen Normungssystems".Demnach müsste auf Basis des Urteils ein kostenloser Zugang für sämtliche harmonisierten Normen erfolgen, welche in einem EU-Amtsblatt veröffentlicht wurden. Dies würde nach deren Aussage dazu führen, dass die EU-Kommission "kostenlosen Zugang zu allen harmonisierten Normen gewähren" müsse, da diese Dokumente Teil des EU-Rechts sind. 

 

Zusammenfassung des Urteils

  1. Das Urteil des Gerichts der Europäischen Union vom 14. Juli 2021, Public.Resource.Org und Right to Know/Kommission, wird aufgehoben (Zugang zu Dokumenten aufgrund des Schutzes geistigen Eigentums verwehrt)
  2. Die Entscheidung C(2019) 639 der Kommission vom 22. Januar 2019 wird für nichtig erklärt (Entscheidung von CEN zur Verweigerung der kostenlosen Bereitstellung der Normen).
  3. Die Europäische Kommission trägt die Kosten sowohl des Verfahrens vor dem Gericht der Europäischen Union als auch des Rechtsmittelverfahrens; die europäischen sowie nationalen Normungsorganisationen tragen ihre eigenen Kosten.
  4. Die Kläger erhalten also die vier geforderten harmonisierten Normen für Spielzeugsicherheit, dürfen sie aber nur innerhalb der Grenzen des Urheberrechts verwenden.
  5. Offen ist, was das Urteil für den Zugang zu der Vielzahl von anderen harmonisierten Normen bedeutet. In einem Statement nach der Urteilsverkündung erklären die europäischen Normungsorganisationen, dass sie den Urteilsspruch dahingehend begrüßen, dass der Urheberrechtsschutz für harmonisierte Normen nicht in Frage gestellt wird.

 

Mögliche Auswirkungen

Im Vorfeld des EuGH-Urteils war bereits viel über die Auswirkungen eines möglichen Urteils gesprochen worden. Ein für die Allgemeinheit kostenloser Zugang zu harmonisierten Normen würde einen Paradigmenwechsel in der europäischen Normung darstellen. Die Konsequenzen könnten folgendermaßen aussehen:

  • Das New Legislative Framework müsste in der derzeitigen Form hinterfragt werden. Dieses sieht vor, dass in Rechtsvorschriften lediglich grundledgende Sicherheits- und Gesundheitsschutzanforderungen kommuniziert werden, die Konkretisierung Letzterer erfolgt im Zuge harmonisierter Normen. Durch die Aussage, dass Normen Teil des EU-Rechts sind, wäre jedoch der freiwillige Anwendungscharakter in Frage gestellt, da Normen somit verbindlich anzuwenden sind.
  • Es würde gegebenenfalls eine Entkopplung der Europäischen von der Internationalen Normung entstehen. Viele ISO- und IEC-Normen werden in die europäische Normung übernommen, damit ein internationaler Marktzugang etabliert wird. Da internationale Normen weiterhin kostenpflichtig sind, wäre diese bisherige Übernahme nicht mehr problemlos möglich.
  • Durch die kostenlose Bereitstellung harmonisierter technischer Normen fallen zudem  den nationalen Normungsorganisationen Einnahmequellen weg – was direkte Auswirkungen auf die Finanzierung der Normenersteller (=technische Komitees) haben dürfte.
  • Eine solche Finanzierungslücke könnte durch die EU-Kommission gefüllt bzw. ausgebaut werden: laut Generalanwältin kann nur die Kommission die Entwicklung einer harmonisierten Norm verlangen, um eine Richtlinie oder eine Verordnung umzusetzen. Der Entwicklungsprozess wird von der Kommission überwacht, welche auch die Finanzierung gemäß Artikel 15 der genannten Verordnung übernimmt.
  • Eine verstärkte Finanzierung vonseiten der Kommission würde möglicherweise deren Einfluss deutlich erhöhen, was bei aktuellen Rechtsvorschriften durch die Möglichkeit der Erstellung "delegierter Rechtsakte" bei Nichtvorhandensein von Normen bereits der Fall ist.

 

Reaktion der EU-Kommission: Portale für den Lesezugriff

Ende April kündigte Kerstin Jorna, Generaldirektorin der Direktion Binnenmarkt, Industrie und Unternehmertum und KMU an, dass man an einem gemeinsamen Konzept zur Umsetzung des Urteils arbeite3. Demnach soll ein freier Zugang zu bestimmten harmonisierten Normen im Rahmen von speziellen "readability platforms" erfolgen. 

Die Einführung solcher Plattformen erfolgte Anfang September in Zusammenarbeit mit den einzelnen Normungsgremien. So stellt DIN für Deutschland eine "Liste harmonisierter Normen" bereit, auf welcher die nationalen Umsetzungen der Volltexte bestimmter harmonisierter Normen für die europäische Öffentlichkeit bereitgestellt werden. Nach Registrierung erhalten Nutzer Zugang zu den 4 Normen, die Gegenstand des Urteils waren: EN 71 mit den Teilen 4, 5 und 12 (Sicherheit von Spielzeug) sowie EN 12475 (simulierte Abrieb- und Korrosionsprüfung) in den entsprechenden nationalen Ausgaben, wobei mit Ausnahme der EN 71-5 in der Zwischenzeit bereits alle Normenausgaben zurückgezogen sowie aus dem EU-Amtsblättern nach Spielzeug- bzw. REACH-Verordnung entfernt worden sind. Dieser Zugang erfolgt ausschließlich mit Leserechten und schließt das Herunterladen und die Verbreitung der Normeninhalte in jeglicher Form aus; die Urheberrechte verbleiben bei der nationalen Normungsorganisation. 

 

Chronologie der Ereignisse

  • 2019: Public.Resource.Org, Inc sowie Right to Know CLG klagen vor dem Europäischen Gericht (EuG) auf kostenlosen Zugang zu harmonisierten Normen im EU-Amtsblatt (u.a. Normen zur Spielzeugrichtlinie 2009/48/EG). Hierbei berufen sie sich auf Verordnung 1049/2001 (EG), da der Zugang zu rechtlichen Dokumenten ein „überwiegend öffentliches Interesse“ darstellt.
  • 2021: Die Klage wird vom Europäischen Gericht (EuG) abgelehnt, da der Zugang zu Dokumenten gemäß 1049/201 (EG) eingeschränkt werden kann, wenn dadurch geistiges Eigentum (in diesem Fall der europäischen Normungsorganisationen) beeinträchtigt wird.
  • 2023: Nach erfolgter Revision durch die Kläger folgt der Schlussantrag der EU-Generalanwältin, in welchem sie kostenlosen Zugang zu harmonisierten Normen fordert. Grundlage ist ihrer Meinung nach die rechtliche Bedeutung von Normen als Teil des Unionsrechts. 
  • 2024 (März): Der EuGH erklärt die Entscheidung der Kommission, den Zugang zu den beantragten Dokumenten zu verweigern für nichtig. Harmonisierte Normen sind demnach Teil des EU-Rechts, welches allen Bürgern in der EU frei zugänglich gemacht werden muss. Der Zugang zu Dokumenten erfolgt jedoch unbeschadet bestehender Urheberrechtsvorschriften. 
  • 2024 (April): Die EU-Kommission kündigt die Einführung sogenannter "readability platforms" an, auf welchen alle Bürger und Unternehmen harmonisierte Normen im EU-Amtsblatt frei und kostenlos aufrufen können. 
  • 2024 (September): Nationale Normungsorganisationen veröffentlicht die ersten solcher Plattformen z.B. als "Liste harmonisierter Normen" (DIN), auf welcher Anwender ein Lesezugriff auf die nationalen Übernahmen bestimmter harmonisierter Europäischer Normen gewährt wird. Nach Registrierung erhalten Anwender bisher nur Zugriff auf die 4 Normen des Urteils.

Informationen für Safexpert-Anwender

Wir beobachten die Ergebnisse des Gerichtsurteils genau und werden umgehend prüfen, inwieweit sich Folgen für die Bereitstellung von Normen im Volltext am Safexpert Live Server ergeben. Nach aktuellem Stand ist vom derzeitigen Urteil nur die Herausgabe der 4 harmonisierten Normen an die Kläger betroffen, für welche auf den "readability platforms" eine kostenlose Einsicht möglich ist.

Unklar ist, inwieweit die Rechtssache einen Präzedenzfall für weitere solcher Klagen, beispielsweise für harmonisierte Normen nach Maschinenrichtlinie, darstellt. In unserem Newsletter, dem CE-InfoService, informieren wir Sie umgehend, sobald uns neue Erkenntnisse zu dieser Thematik vorliegen.

 

Links zum Urteil 

Interessierte Leser können das gesamte Gerichtsurteil auf der Seite des Europäischen Gerichtshof (EuGH) nachlesen. Dort befindet sich ebenso eine Pressemitteilung zur Causa.


Fußnoten:
1 Siehe Statement von CEN/CENELEC zum Urteil vom 5.3.2024

2 Siehe Pressemitteilung der Anwälte von Public.Resource.Org, Inc. und Right to Know CLG

3 Siehe Veröffentlichung der Generaldirektorin Kerstin Jorna zur Umsetzung des Urteils

Siehe Portale für den Lesezugriff von DIN Media und Austrian Standards


Verfasst am: 11.09.2024 (letzte Aktualisierung)

Autor

Daniel Zacek-Gebele, MSc
Produktmanager bei IBF für Zusatzprodukte sowie Datenmanager für die Aktualisierung der Normendaten am Safexpert Live Server. Studium der Wirtschaftswissenschaften in Passau (BSc) und Stuttgart (MSc) im Schwerpunkt International Business and Economics.

E-Mail: daniel.zacek-gebele@ibf-solutions.com | www.ibf-solutions.com

 


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